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Michael Kathe «Polit-PR SoKo Chemnitz»

SoKo Chemnitz
Chemnitz am 1. September 2018. Die Stadt im Osten Deutschlands führt zur bisher augenfälligsten Verbrüderung von AfD-Wählern (sogenannten „Wutbürgern“) und Nazigruppierungen. Sie jagen Ausländer durch die Strassen der Stadt und demonstrieren gemeinsam. Mit dem Fazit: Rassistische Attacken und Demonstrationen werden immer tolldreister in Deutschland. Eine spektakuläre PR-Aktion zum Thema sorgte in den letzten Wochen in Deutschland für grosses Aufsehen.

Von einer grenzwertigen PR-Aktion …

Anfang Dezember wurde die Menschenjagd des rechten Mobs mit einer anderen Art der Menschenjagd gekontert. Das „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS) forderte unter dem Aktionstitel „SoKo Chemnitz“ dazu auf, die Menschen, die an den Chemnitzer Demos die Hand zum Hitlergruss erhoben oder einfach nur mitmarschierten, zu denunzieren. Auf der Website www.soko-chemnitz.de konnte man sich Bilder der Demonstranten ansehen und Leute mit Namen benennen, damit sie an ihrem Arbeitsplatz als Nazis angeschwärzt werden konnten: „Helfen Sie uns, die entsprechenden Personen aus der Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst zu entfernen.“ Die Aufforderung nahm kein Blatt vor den Mund und war betont kämpferisch. Dass sich dahinter mehr als nur eine grenzwertige PR-Aktion verbarg, ahnte absolut niemand:


Der Ton parodiert dabei den Rechtschaffenheitston, den rechte Politiker gern anwenden und dreht den Spiess um. Für einmal galten nicht die Wutbürger als jene „normalen, betrogenen Menschen“, die rechtschaffen arbeiten, sondern diejenigen, die wütend sind auf die Wutbürger: „Während normale Menschen arbeiten, treiben Tausende Arbeitnehmer und Hartz-4-Empfänger Ausländer durch Chemnitz, attackieren Presse und Polizeibeamte und grüssen Hitler.“ Auch im Weiteren setzte das ZPS die Sprache der Rechten gegen Rechte ein: „Volksverräter“, „Gesinnungskranke“, „rechte Deutschlandhasser“.

Der überzogene Tonfall und die aggressive Forderung erinnern nicht von ungefähr an die politischen Kunstaktionen von Christoph Schlingensief wie der Big-Brother-Ausländer-Abwähl-Container in Wien im Jahr 2000 oder die Ankunft Schlingensiefs in Zürich 2001 unter dem Slogan „SVP verbieten“, mit einer Demo von Neonazis vor Christoph Blochers Haus in Herrliberg. Mit Schlingensief fand zum ersten Mal die angestaute Frustrationen von Teilen der Linken und der Mitte gegen den Rechtsdrall ein Ventil.

Wer nicht die Macht hat, mit der grossen Kelle anzurühren wie einst der Erfinder der PR, Edward Bernays, muss umso mehr mit Kunst und Sensation arbeiten. Bernays konnte die Macht, die Medien und das Geld der US-Regierung einsetzen, um die kriegmüde Bevölkerung innerhalb von nur zwei Jahren für den Kriegseintritt der USA zu begeistern. Das „Zentrum für politische Schönheit“ dagegen hat nicht einmal die Bekanntheit eines Schlingensief und nur bedingt finanzielle Mittel. Umso mehr müssen ihre Kunstaktionen direkt in den politischen Diskurs eingreifen und den Kunstdiskurs vergessen machen.

Durch die deutsche Presse ging jedenfalls ein grosser Aufschrei: Auch Blätter, die dem ZPS Sympathien entgegen brachten, konnten sich nicht mit den faschistischen oder Stasi-Methoden der Denunziation anfreunden – und AfD-Chef Alexander Gauland sprach explizit von „Nazi-Methoden“. Das kurz zuvor eröffnete Denunziationsbüro mitten in Chemnitz wurde von der Polizei geschlossen.

Dass Denunziation heute nicht ganz so einmalig wie vermutet ist, fand allerdings in den Medien auch Widerhall: hatte nicht die Bild-Zeitung nach dem G20-Gipfel in Hamburg Fotos vermeintlicher linker Krawallanten veröffentlicht („Wer kennt diese G20-Verbrecher?“), was zu Identifizierungen führte?! Auch die Parallelen zum sogenannten „AfD-Pranger“ lagen auf der Hand: Die deutsche Rechtspartei hält Schüler in Hamburg dazu an, Lehrer öffentlich zu denunzieren.

… zu einer komplexen Big Data-Aktion.

Doch mitten in die angeheizte Diskussion, änderte das ZPS die Website: Alles war nur ein Täuschungsmanöver. Ab dem 5. Dezember zierte nur noch ein Honigglas die Website und die Nachricht, dass alles nur ein Fake war: „Danke, liebe Nazis“. Die Rechtsextremen waren auf einen sogenannten Honeypot hereingefallen. Die Website lockte nämlich vor allem Rechtsextreme an, die herausfinden wollten, ob sie im System bereits identifiziert wurden und namentlich erwähnt waren. Mit Hilfe von ausführlichen Vorab-Recherchen zur Szene, künstlicher Intelligenz, Bildererkennung und nicht zuletzt mit Data-Science wurden offenbar Erkenntnisse und Zusammenhänge über die Freudeskreise, Knotenpunkte, Mitläufer und Aufenthaltsorte in grösserem Stil gewonnen und eine Woche später an das Bundesinnenministerium, die Polizei Sachsen und die LKA 532 (Bekämpfung des militanten Rechtsextremismus) weiter geleitet. Damit die Big Data-Datensätze auch relevant ausgewertet werden können, waren die Vorabrecherchen essenziell. Interessant ausserdem: dass während der gesamten Aktion vermutlich keine Gesetzesbrüche des ZPS begangen wurden.

Ist die Aktion nun provokative Werbung at its best oder geht das ein paar Schritte zu weit?

Die gesamte Aktion:


©Text: Michael Kathe

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